Narzissen - Harald Linke - 27.03.2020
Verfasst: Do Apr 02, 2020 10:07 am
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Narzissen
von Harald Linke; Veröffentlicht hier am 27.03.2020
Wieder einmal zieht es mich in mein Heimatdorf, wo ich als Kind lebte. Parallel zur Hauptstraße, aber in einiger Entfernung führt ein Fußweg durch bäuerliche Streuobstwiesen. Nur die Einheimischen kennen ihn. Hier lässt sich’s gemächlich spazieren, hier kann man die Natur genießen. Es ist ein milder Samstag Ende März. Ich beobachte die Vegetation. Ja, die Knospen sind schon weit gediehen, es zeigen sich auch erste grüne Spitzen. Ein lärmender Vogelschwarm zieht über das Dorf.
Diese Eindrücke hätte ich auch vor siebzig Jahren gewinnen können, alles wie schon damals. Ich begegne keiner Menschenseele. Schade, denn ich hatte gehofft, alte Bekannte zu treffen. Naja, wer in meinem Alter ist, sitzt um diese Tageszeit wohl beim nachmittäglichen Kaffeetrinken.
Jetzt habe ich das Flurstück erreicht, das dem Bauern gehörte, wo meine Mutter einst als Magd schuftete. Doch was ist das? Der kleine Teich am Feldweg ist noch da, führt auch Wasser. Aber rings um ihn blühen Narzissen, auf einer erstaunlich großen Fläche Narzissen, Narzissen, Narzissen! Am Rande des Teiches steht sogar eine Bank! Nein, das gab es in meinen Kindertagen nicht. Ich setze mich, will für einen Augenblick verschnaufen. Diese Augenweide! Ein Wordsworth-Gedicht fällt mir ein. Die Blumen nicken in der sanften Brise mit den Köpfen, scheinen einander zum Tanz aufzufordern. Jetzt stehen sie still. Schauen sie mich an? Ich wäre nicht überrascht, wenn sie mit mir zu sprechen begännen, und ich kann mich nicht satt sehen.
Das Getrappel von Pferdehufen lenkt mich ab. Ein Reiter in leichtem Trab. Als er die Bank erreicht, hält er an.
„Grüße Sie“, ergreift er die Initiative. „Ja, so lässt sich’s aushalten hier bei uns auf dem Lande.“ Er ist etwa mein Alter, ordnet mich wohl spontan ein unter die Touristen, die Urlaub auf seinem Bauernhof machen. Wir kommen ins Gespräch. Seine Felder hat er an die Agrargenossenschaft verkauft, die hier wirtschaftet, aber die Gebäude des Vierseit-Hofs hat er zu Unterkünften für Urlauber umgebaut. Die Scheune ist noch nicht fertig; dort sollen bald junge Leute im Heu übernachten. Zwei Kühe, einige Hühner, ein Pferd, ein Hund, drei Katzen – das lockt Familien mit Kindern an. Dazu ein großer Garten, wo die Gäste sich einbringen können. „Jetzt im Frühling ist ja viel zu tun im Freien. Und anschließend ausruhen in Narzissenland“, schmunzelt er.
Ich erfahre, dass seine fünfzehn Jahre jüngere Frau das Sagen auf dem Hof hat. Er ist sicher, dass ich mich bei ihr angemeldet habe. Ich kläre ihn auf. Bin kein Urlauber. Habe als Schuljunge gleich hinter dem Teich, an dem wir palavern, Kühe gehütet. „Wo sind Sie denn in die Schule gegangen?“, frage ich.
„Na, hier um die Ecke, da steht unsere Schule“, antwortet er.
„Waaas? Da müssten wir uns von früher kennen!“ Ich stelle mich vor.
Er staunt. „Das gibt’s ja nicht! Der Willi! Ich saß eine Klasse höher als du.“ Er steigt ab, und wir umarmen uns. „Eine Ewigkeit nicht gesehen! Und jetzt dieser Zufall! Ich auf meinem ersten Ausritt nach dem Winter, du hier auf dieser Bank! Das muss begossen werden!“
Naja, ich habe das Auto am ehemaligen Bahnhof geparkt, also ist an einen zünftigen Umtrunk nicht zu denken. Das sieht Christian ein. Er hat auch zu tun: das Pferd in den Stall bringen, die Kühe versorgen, die Hühner füttern. Wir verabreden uns in Chemnitz. „Klar doch“, meint er, „meine Schwester wohnt dort, und ab und zu besuche ich sie. Da kann ich auch bei dir vorbeikommen.“
„Und Narzissen findest du im März auch in Chemnitz“, rufe ich ihm nach. „Auf den Rasenflächen im Zentrum, in den Parkanlagen. Nicht zu vergessen: am Schloßberg, wo ich wohne. Deine Narzissen sind allerdings das Schönste, was ich seit langem gesehen habe!“ Ich sitze noch ein Weilchen. Dieser Frühlingstag! Die gelbgrüne Blumenpracht, und dazu eine alte Bekanntschaft aufgefrischt! Ob Christian wirklich demnächst bei mir anruft? Wie auch immer: Wenn ich nach Hause komme, werde ich den Computer einschalten. Im Kopf wächst sie schon, meine Narzissen-Geschichte.
Narzissen
von Harald Linke; Veröffentlicht hier am 27.03.2020
Wieder einmal zieht es mich in mein Heimatdorf, wo ich als Kind lebte. Parallel zur Hauptstraße, aber in einiger Entfernung führt ein Fußweg durch bäuerliche Streuobstwiesen. Nur die Einheimischen kennen ihn. Hier lässt sich’s gemächlich spazieren, hier kann man die Natur genießen. Es ist ein milder Samstag Ende März. Ich beobachte die Vegetation. Ja, die Knospen sind schon weit gediehen, es zeigen sich auch erste grüne Spitzen. Ein lärmender Vogelschwarm zieht über das Dorf.
Diese Eindrücke hätte ich auch vor siebzig Jahren gewinnen können, alles wie schon damals. Ich begegne keiner Menschenseele. Schade, denn ich hatte gehofft, alte Bekannte zu treffen. Naja, wer in meinem Alter ist, sitzt um diese Tageszeit wohl beim nachmittäglichen Kaffeetrinken.
Jetzt habe ich das Flurstück erreicht, das dem Bauern gehörte, wo meine Mutter einst als Magd schuftete. Doch was ist das? Der kleine Teich am Feldweg ist noch da, führt auch Wasser. Aber rings um ihn blühen Narzissen, auf einer erstaunlich großen Fläche Narzissen, Narzissen, Narzissen! Am Rande des Teiches steht sogar eine Bank! Nein, das gab es in meinen Kindertagen nicht. Ich setze mich, will für einen Augenblick verschnaufen. Diese Augenweide! Ein Wordsworth-Gedicht fällt mir ein. Die Blumen nicken in der sanften Brise mit den Köpfen, scheinen einander zum Tanz aufzufordern. Jetzt stehen sie still. Schauen sie mich an? Ich wäre nicht überrascht, wenn sie mit mir zu sprechen begännen, und ich kann mich nicht satt sehen.
Das Getrappel von Pferdehufen lenkt mich ab. Ein Reiter in leichtem Trab. Als er die Bank erreicht, hält er an.
„Grüße Sie“, ergreift er die Initiative. „Ja, so lässt sich’s aushalten hier bei uns auf dem Lande.“ Er ist etwa mein Alter, ordnet mich wohl spontan ein unter die Touristen, die Urlaub auf seinem Bauernhof machen. Wir kommen ins Gespräch. Seine Felder hat er an die Agrargenossenschaft verkauft, die hier wirtschaftet, aber die Gebäude des Vierseit-Hofs hat er zu Unterkünften für Urlauber umgebaut. Die Scheune ist noch nicht fertig; dort sollen bald junge Leute im Heu übernachten. Zwei Kühe, einige Hühner, ein Pferd, ein Hund, drei Katzen – das lockt Familien mit Kindern an. Dazu ein großer Garten, wo die Gäste sich einbringen können. „Jetzt im Frühling ist ja viel zu tun im Freien. Und anschließend ausruhen in Narzissenland“, schmunzelt er.
Ich erfahre, dass seine fünfzehn Jahre jüngere Frau das Sagen auf dem Hof hat. Er ist sicher, dass ich mich bei ihr angemeldet habe. Ich kläre ihn auf. Bin kein Urlauber. Habe als Schuljunge gleich hinter dem Teich, an dem wir palavern, Kühe gehütet. „Wo sind Sie denn in die Schule gegangen?“, frage ich.
„Na, hier um die Ecke, da steht unsere Schule“, antwortet er.
„Waaas? Da müssten wir uns von früher kennen!“ Ich stelle mich vor.
Er staunt. „Das gibt’s ja nicht! Der Willi! Ich saß eine Klasse höher als du.“ Er steigt ab, und wir umarmen uns. „Eine Ewigkeit nicht gesehen! Und jetzt dieser Zufall! Ich auf meinem ersten Ausritt nach dem Winter, du hier auf dieser Bank! Das muss begossen werden!“
Naja, ich habe das Auto am ehemaligen Bahnhof geparkt, also ist an einen zünftigen Umtrunk nicht zu denken. Das sieht Christian ein. Er hat auch zu tun: das Pferd in den Stall bringen, die Kühe versorgen, die Hühner füttern. Wir verabreden uns in Chemnitz. „Klar doch“, meint er, „meine Schwester wohnt dort, und ab und zu besuche ich sie. Da kann ich auch bei dir vorbeikommen.“
„Und Narzissen findest du im März auch in Chemnitz“, rufe ich ihm nach. „Auf den Rasenflächen im Zentrum, in den Parkanlagen. Nicht zu vergessen: am Schloßberg, wo ich wohne. Deine Narzissen sind allerdings das Schönste, was ich seit langem gesehen habe!“ Ich sitze noch ein Weilchen. Dieser Frühlingstag! Die gelbgrüne Blumenpracht, und dazu eine alte Bekanntschaft aufgefrischt! Ob Christian wirklich demnächst bei mir anruft? Wie auch immer: Wenn ich nach Hause komme, werde ich den Computer einschalten. Im Kopf wächst sie schon, meine Narzissen-Geschichte.